«Wir müssen Kinder begleiten, damit sie gesund aufwachsen»

Unterhalt mit Sarah Vilpert, Projektleiterin Prävention bei Sucht Schweiz

06.03.2025

Sucht nicht an die nächste Generation weitergeben

Welche Unterstützung brauchen Kinder von Eltern mit einer Suchterkrankung? Was können wir alle für diese Kinder tun? Contact sprach mit Sarah Vilpert, Projektleiterin Prävention bei Sucht Schweiz. Sie ist zuständig für das nationale Programm für Kinder von Eltern mit Suchterkrankung, zu der auch die Aktionswoche im März zählt.

Wenn Sie einen Zauberstab hätten, was würden Sie als Erstes ändern, damit weniger Kinder von Eltern mit Suchterkrankung leiden?

Sarah Vilpert: Ich würde das Schweigen brechen, damit sie ihre Sorgen freier äussern und darauf vertrauen können, dass ihnen zugehört wird. Dafür müssen wir gegen die Stigmatisierung von Menschen mit Suchterkrankung ankämpfen. Diese drückt sich auch in kleinen Gesten aus, z. B. wenn jemand während eines Gesprächs seufzt oder mit einem Augenrollen zur Decke schaut. Wegen enttäuschender Erfahrungen mit Betroffenen neigt man oft dazu, ihnen weniger zu vertrauen und sie weniger ernst zu nehmen. Auch Suchtfachleute müssen gegen ihre Vorurteile ankämpfen. Immer wieder aufs Neue unvoreingenommen zu sein, ist eine echte Herausforderung.

Die gesellschaftliche Abwertung und Verurteilung wirken sich auch auf die Kinder aus. Die meisten Familienmitglieder leiden unter Schamgefühlen. Das macht es schwer, offen über die Probleme zu reden. Mit dem nationalen Programm «Papa trinkt. Mama trinkt.» wollen wir einen sicheren Raum schaffen, in dem sich jeder und jede ausdrücken kann. Die Aktionswoche vom März ist Teil dieses Programms.

 

Was braucht es, damit die Aktionswoche erfolgreich wird?

Ziel der Aktionswoche ist es, das Thema Kinder von Eltern mit einer Suchterkrankung und die entsprechenden Unterstützungsangebote weithin bekannt zu machen. Dafür sorgen Organisationen aus den Bereichen Sucht, Familie, Jugend, Bildung und frühe Kindheit, Gesundheit etc. Geplant sind Aktionen sowohl für Fachleute als auch solche für die breite Öffentlichkeit – darunter Informations- und Vernetzungsanlässe, Workshops, Lesungen, Medienkampagnen etc.

Wenn das Thema öffentlich diskutiert wird, wird es normaler, darüber zu reden. Dies erleichtert es den Betroffenen, Hilfe zu suchen.

Sarah Vilpert ist Projektleiterin Prävention bei Sucht Schweiz und leitet seit Januar 2024 das Nationale Programm «Papa trinkt. Mama trinkt». Sie hat einen Abschluss in Soziologie und Demogra- fie und promovierte an der Universität Lausanne in Biowissenschaften.
Weshalb ist es wichtig, betroffene Kinder zu unterstützen?

Kinder von Eltern mit einer Suchterkrankung sind besonders gefährdet, psychische Probleme oder eine Sucht zu entwickeln. Zu Hause erleben sie, dass Alkohol z. B. bei Belastung zu helfen scheint. Manche übernehmen später ein solches Muster, selbst wenn sie es eigentlich nicht wollen – was zu Schuldgefühlen und zusätzlichem Stress führen kann, gefolgt von problematischem Konsum als einem Bewältigungsversuch. Ein Teufelskreis. Es gibt also eine intergenerationelle Weitergabe des problematischen Substanzkonsums.

Konflikte in der Familie, Gewalt oder Vernachlässigung, die durch problematischen Substanzkonsum der Eltern entstehen können, beeinträchtigen die gesunde Entwicklung der Kinder. Auch wenn die Kinder die Dysfunktionen spüren, erleben sie sie dann letztlich als normal. Die negativen Folgen dieses Familienklimas reichen oft ins Erwachsenenalter hinein. Daher ist es entscheidend, den Kindern zu helfen, damit Suchtprobleme nicht von einer Generation an die nächste weitergegeben werden.

 

Benötigen alle betroffenen Kinder Unterstützung?

Natürlich ist es nicht angezeigt, allen Kindern Hilfe aufzuzwingen. Aber Unterstützung kann nebst einer möglichen therapeutischen Begleitung in vielerlei Form erfolgen. Oft bewirken schon einfache Dinge einiges – etwa ein offenes Ohr von anderen Erwachsenen, denen sie vertrauen – sei es in der erweiterten Familie, in der Schule oder im Sportverein. Wichtig ist auch, dass Kinder ihre Hobbys ausüben und ihren Alltag strukturieren können, ohne Verantwortung übernehmen zu müssen, die eigentlich den Eltern obliegt, wie z. B. die Betreuung von jüngeren Geschwistern. Mit anderen Worten ist es wichtig, Räume und Zeiten zu schaffen, in denen sie ein unbeschwertes Leben als Kinder führen können.

 

Was unternimmt Sucht Schweiz?

Wir machen die Problematik sichtbar, damit mehr Kinder erkannt und unterstützt werden. Dazu koordinieren wir u. a. die Aktionswoche. Weiter setzen wir uns für politische Lösungen ein, damit beispielsweise finanzielle Barrieren abgebaut und Hilfsangebote zugänglicher werden.

Ganz wichtig ist uns die Sensibilisierung und Information von Fachkräften aus Berufen im Kinder- und Jugendbereich, z. B. Schulsozialarbeitende oder das Personal in Kitas. Sie haben häufig Kontakt zu den Kindern und sollten in der Lage sein, problematische Situationen zu erkennen sowie zu wissen, welche Unterstützung bei spezialisierten Fachstellen verfügbar ist. In der Aus- und Fortbildung entsprechender Berufe müssen die spezifischen Bedürfnisse von betroffenen Kindern zur Sprache kommen.

Wir interessieren uns zudem für die Forschung, um die Bedürfnisse dieser Kinder und das Hilfsangebot in der Schweiz im Hinblick auf eine Weiterentwicklung gut zu kennen.

 

Die Kinder zu begleiten könnte auch bedeuten, die Eltern blosszustellen. Wie kann man den Kindern trotzdem helfen?

Kinder sind ihren Eltern gegenüber loyal und halten zu ihnen. Wenn eine Lösung für die Eltern nicht passt, wird sie auch vom Kind nicht akzeptiert. Es ist wichtig, die Eltern ebenfalls zu unterstützen, damit sie ihre Rolle als Erziehungsberechtigte bestmöglich wahrnehmen können. Ein Dialog mit den Eltern über die Herausforderungen der Elternschaft in einer Suchtsituation ist entscheidend, um gemeinsam eine Lösung zu finden. Dabei ist es zentral, eine Partnerschaft mit den Eltern aufzubauen, die auf Vertrauen und Zusammenarbeit beruht. Das Entziehen des Sorgerechts ist stets die letzte Massnahme.

 

Inwiefern tragen wir alle Verantwortung, als Nachbarin oder Götti etc.?

Alle, die im Umfeld der Kinder sind, tragen Verantwortung. Wir können handeln, indem wir zuhören, Interesse und Aufmerksamkeit zeigen. Selbst wenn ein Beitrag klein erscheint, kann er einen grossen Unterschied ausmachen. Wenn sich das Kind gehört fühlt, ist das ein hilfreicher Schritt. Auch ein gemeinsamer Ausflug oder Spaziergang kann helfen. Gegebenenfalls könnte man dem Kind raten, eine Fachperson aufzusuchen oder im Falle von Gewalt die Behörden kontaktieren.

Wie kann ich einem Kind helfen?

Wenn Sie sich Sorgen machen, haben Sie mehrere Möglichkeiten:

  • Ich suche das Gespräch mit den von einer Suchterkrankung betroffenen Eltern
  • Ich suche das Gespräch mit dem Kind
  • Ich bin für das Kind da
  • Ich suche das Gespräch mit einer Fachperson, die mit der Familie in Kontakt ist
  • Ich wende mich an eine Beratungsstelle
  • Ich wende mich an die Kinderschutzbehörde

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Die Aktionswoche «Kinder von Eltern mit Suchterkrankung»

Seit 2019 organisiert und koordiniert Sucht Schweiz eine nationale Aktionswoche zum Thema «Kinder von Eltern mit Suchterkrankung». In der ganzen Schweiz bieten Institutionen aus den Bereichen Sucht, Kinder- und Jugendschutz zahlreiche Aktionen wie Vorträge, Schulungen, Filmvorführungen oder Wettbewerbe an. Sie wollen die breite Öffentlichkeit und die Medien sensibilisieren sowie die Fachwelt auf ihre Angebote aufmerksam machen. Die diesjährige Aktionswoche fand vom 17. bis 23. März 2025 statt.

Ausführlichere Informationen finden Sie auf der neuen Website von Sucht Schweiz, welche das gesamte Programm vorstellt. Aktivitäten und Adressen für Hilfe und Beratung auf: kinder-eltern-sucht.ch

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