
Wenn der Bildschirm das Leben von Jugendlichen beherrscht
Alltag mit Jugendlichen
Wie Eltern die Mediennutzung begleiten können
20.04.2025
«In der Familie kommt es oft zu einer Gewaltspirale»
Mit welchen Problemen können Jugendliche bei der Nutzung von Videospielen oder sozialen Netzwerken konfrontiert sein? Contact sprach mit Martin Meyer, Oberarzt am Zentrum für Abhängigkeitserkrankungen der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel. In der Klinik sieht die Ärzteschaft oft nur die Spitze des Eisbergs.
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Wie problematisch schätzen Sie Videospiele ein?
Martin Meyer: Die Schwierigkeiten fangen dann an, wenn Spielende schnell viel Zeit damit verbringen und andere Dinge nicht mehr stattfinden. Videospiele sind nicht generell schlecht. Sie ermöglichen z. B. den Austausch mit anderen, motivieren dazu, eine gewisse Leistung zu erbringen. Wer aber deswegen zu wenig schläft oder die Schule vernachlässigt, bekommt rasch Probleme. Manche Spielende stehen unter grossem Druck, weil sie die anderen Spielkollegen nicht enttäuschen wollen – was wiederum viel Zeit…
… und Geld kostet.
Ja, Mikrotransaktionen – ein gängiges Geschäftsmodell in Videospielen – animieren zum Geld ausgeben. Ein Beispiel sind Lootboxen. Dabei wird wie bei einem Geldspielautomat ein monetärer Einsatz getätigt mit der Hoffnung auf etwas Besonderes, wobei nicht immer klar ist, was man letztlich bekommt, ob es einen im Spiel weiterbringt oder nicht. Gaming sowie Glücks- und Geldspielelemente vermischen sich zunehmend, weil es ein lukratives Geschäftsmodell ist und man rasch den Überblick verlieren kann, wie viel investiert wurde.
Videospiele sind vor allem bei Jungen beliebt, während soziale Netzwerke mehr Mädchen anziehen – mit welchen Risiken?
Nebst den positiven Aspekten kann der ständige Vergleich mit anderen oder die geschönten Bilder für Mädchen schwierig sein, was sich z. B. mit Essstörungen ausdrückt. Das Gemeine ist: Diese Plattformen sehen, was jemand anschaut und sie sind so programmiert, dass sie die Nutzenden mit ähnlichen Inhalten fluten, z. B. mit Bildern von sehr dünnen jungen Frauen.
Die Apps erfordern ständig neue Aufmerksamkeit, was es schwierig macht, sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Problematisch ist, wenn Nutzende die Fähigkeit verlieren, negative Gefühle anders zu regulieren als mit sozialen Medien. Solche Plattformen können Depressionen verstärken oder aufrechterhalten. In Krisensituationen bleiben die Betroffenen oft im Online-Verhalten gefangen und verlieren den Überblick. Viele sind dann sozial weniger aktiv und einsam. Natürliche Reize, wie draussen mit Gleichaltrigen zusammen zu sein, sind weniger attraktiv.

Mit welchen Problemen sind die Familien konfrontiert?
Es gibt viel Streit. Ein Beispiel: Der Sohn (16 Jahre) ist ständig am Handy, zieht sich in sein Videospiel zurück und spricht nicht darüber. Die Eltern verstehen nicht, was ihr Kind wirklich macht. Es gibt selbst dann laute Worte, wenn der Junge das Handy braucht, um mit seinem Freund zu telefonieren. Eltern und Sohn verlieren die gemeinsame Sprache. Der Versuch der Eltern, das Verhalten des Jugendlichen zu stoppen, kann zu einer Gewaltspirale führen. Es herrscht entweder Stille oder lauter Streit. Der Sohn ist immer in seinem Zimmer, spielt nächtelang durch und mag morgens nicht aufstehen. Er vernachlässigt seine Ausbildung, das Essen, den Schlaf.
Weshalb sind Jugendliche besonders gefährdet?
Jugendliche sind von Natur aus neugierig und risikofreudig, sie wollen Dinge ausprobieren. Ihr Gehirn ist noch in Entwicklung begriffen. Der präfrontale Kortex, der u.a. für die Selbstkontrolle zuständig ist, wird zuletzt fertigentwickelt. Teenager sind empfänglich für die vielen Reize und Appelle von Apps oder Spielen. Deshalb ist es wichtig, sie zu begleiten, nachzufragen und sie über die Spielmechanismen aufzuklären. So sind Videospiele so programmiert, dass sie das individuelle Spielverhalten verfolgen und die Spielenden dazu verleiten, dranzubleiben und zunehmend auch Geld auszugeben – dieses Bewusstsein gilt es zu schärfen.
Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass auch Erwachsene nicht davor gefeit sind, sich im Internet zu verlieren und sich ständig von Meldungen ablenken zu lassen.
Wann sprechen Sie in der klinischen Praxis von einer Sucht?
Zu den Kriterien zählen:
- Kontrollverlust, beispielsweise über die Zeit, die online verbracht wird.
- Es muss ein Schaden vorhanden sein, wie beispielsweise Streit zu Hause, Probleme mit Freunden und in der Schule oder Gewichts- und Schlafprobleme gehören dazu.
- Priorität über andere Lebensinhalte und wichtige Entwicklungsaufgaben, so dass das Verhalten trotz negativer Folgen fortgesetzt und anderen Aktivitäten und sozialen Beziehungen vorgezogen wird. Bei Schwierigkeiten ist die Online-Aktivität die einzige Fluchtmöglichkeit.
Teenager befinden sich in einer Phase der Identitätsfindung. Es ist ein Weg mit Stolpersteinen. Sie fragen sich, wer sie sind, wohin sie gehen und was Gleichaltrige tun. Wenn ein problematisches Verhalten oder eine Sucht hinzukommen, verpassen sie wichtige Erfahrungen, um Krisen gesund zu meistern.
Jugendliche und ihre Eltern kommen in die Klinik, wenn sie nicht mehr weiterwissen. Was hilft Betroffenen?
Vielen Jugendlichen hilft es, wenn sie etwas Neues, Sinnstiftendes machen können. Das erlaubt es, ihre Online-Aktivitäten zu kontrollieren. Betroffene lernten nicht, schwierige Situationen oder Krisen anders zu überwinden als mit der Flucht in Videospiele oder soziale Netzwerke. Die Realität macht ihnen Angst. Sich ihr zu stellen, fällt ihnen schwer, zumal es anstrengend und aufwändig ist. Hier gilt es, neue Wege aus Krisen sowie Pläne für die Zukunft zu finden und sich auf frühere Talente, Interessen und Freundschaften zu besinnen. Auf ihrem Weg hilft ihnen – nebst einer Therapie – die Unterstützung der Familie und des weiteren Umfelds.
Faktenbox
Mehr als 80% der 15-Jährigen nutzen die sozialen Netzwerke täglich, etwa 7% weisen eine problematische Nutzung auf. Problematisch kann sein, wenn soziale Medien genutzt werden, um vor negativen Gefühlen zu flüchten, wenn man eigentlich weniger Zeit darin verbringen möchte oder deswegen Menschen im Umfeld angelogen hat.
31% der Jungen und 5% der Mädchen im Alter von 15 Jahren spielen täglich Online-Videospiele. Von allen, die solche Games spielen, haben etwa 3% eine problematische Nutzung. Diese betrifft beispielsweise den vergeblichen Versuch, weniger Zeit mit Videospielen zu verbringen, zu spielen, um eine negative Stimmung abzubauen, oder das Anlügen der Familie oder der KollegInnen wegen des Gamens. Die problematische Nutzung kann in eine Sucht münden.
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