Trinken: Ein Ritual mit schädlichen Nebenwirkungen
Der Psychiater Marc Vogel bricht mit den Vorurteilen über Sucht
02.05.2024
«Nur jede/r Zehnte lässt sich behandeln – und das oft spät»
Der Alkohol gehört fest in unsere Kultur. Wer aber die Kontrolle verliert, sucht aus Angst vor Ausgrenzung meist keine Hilfe. Contact sprach mit Marc Vogel über die Gründe. Er ist Chefarzt am Zentrum für Abhängigkeitserkrankungen der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel.
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Alkohol zu trinken ist meist noch die Norm, bei Abstinenz müssen sich viele rechtfertigen und wer die Kontrolle verliert, wird ausgegrenzt.
Weshalb ist das so?
Alkohol ist seit sehr langer Zeit Teil unserer Gesellschaft und kulturellen Identität. Zu trinken ist auch ein Ritual. Es ist den Menschen ein Bedürfnis, gemeinsam anzustossen, sich so der Zugehörigkeit zu versichern. Es gibt aber schon positive Veränderungen. Ein alkoholfreies Bier zu trinken ist heute nicht mehr verpönt und auch die Auswahl ist grösser geworden.
Menschen mit Suchterkrankung sollten sich mehr anstrengen. So denken wohl noch viele. Was können Betroffene wirklich tun?
Sucht ist keine Charakterschwäche, sondern eine Erkrankung des Gehirns. Betroffene können aber etwas tun – namentlich indem sie sich Hilfe holen. Anlaufstellen sind die Hausarztpraxen, psychiatrische Dienste oder Praxen, die Suchtberatung oder eine Selbsthilfegruppe. Ein erster, schwieriger Schritt bleibt, sich die Probleme einzugestehen und nicht mehr zu verstecken.
Gelingt das oft?
Schätzungen gehen davon aus, dass nur etwa 10% der Betroffenen Hilfe holen. Es gibt Menschen, die es ohne therapeutische Unterstützung schaffen, wohl oft auch mit Hilfe von Menschen im Umfeld. Aber die Dunkelziffer jener, die professionelle Hilfe gebrauchen
könnten, bleibt hoch.
Wie könnte man dies ändern?
Dazu müssten wir als Gesellschaft Sucht als Krankheit begreifen und den Mut aufbringen, sie mehr anzusprechen und sich bewusst zu machen, dass manche Menschen Probleme bekommen, weil eben eine Substanz wie Alkohol so allgegenwärtig ist.
Zudem ist es nicht für alle ein Leichtes, Hilfe in der Nähe des Wohnorts zu finden. Oft fehlt es ausserhalb der grossen Zentren an Beratungs- und Behandlungsplätzen.
«Ohne Werbeanreize könnten die Schäden deutlich reduziert werden.»
Viele möchten es auch selbst schaffen…
…aber es wäre gut, wenn Menschen mit Suchterkrankung früher zu uns kommen würden. Es ist leichter zu helfen, wenn das Problem noch nicht chronifiziert ist. Nebst den unmittelbaren Folgen der Suchterkrankung gibt es weitere Belastungen wie die gesellschaftliche Ausgrenzung, die Vereinsamung. Oft wendet sich auch die Familie ab. Häufig verdrängen Betroffene ihre Probleme über längere Zeit oder haben Angst. Dies trägt dazu bei, dass sie sich erst spät Hilfe holen. Wir haben es hier mit einer bedeutenden Behandlungsverzögerung zu tun. Vom Beginn der Erkrankung
bis zum Behandlungsantritt dauert es gut zehn Jahre. Das ist deutlich mehr als bei anderen psychiatrischen Erkrankungen wie z.B. Schizophrenie oder Depressionen. Beim Umgang mit Depressionen gab es bis heute eine gewisse gesellschaftliche Normalisierung. Das stellen wir bei Suchterkrankungen noch nicht wirklich fest.
«Die Behandlungsverzögerung beträgt gut 10 Jahre.»
Kann jede/r von uns suchtkrank werden?
Ja, es kann uns alle treffen, wobei die individuellen Voraussetzungen, die einen vor der Entwicklung einer Suchterkrankung schützen, sehr unterschiedlich sind. Zu den Schutzfaktoren zählen z.B. gute, tragende soziale Beziehungen, während der Kindheit und im Erwachsenenalter. Ein Risiko sind z.B. traumatische Kindheitsereignisse, aber auch dergesellschaftliche Umgang mit einer Substanz. Alkohol und Tabak sind bei uns allgegenwärtig. Wenn ich mit dem Fahrrad nach Hause fahre, fallen mir die Plakate auf, die auf junge Menschen abzielen und für Bier werben. Solche Werbung ist für uns alle täglich ersichtlich, auch für Kinder. Das trägt dazu bei, dass wir den Konsum als völlig normal ansehen. Durch eine bessere Regulierung könnten wir die Schäden des Konsums deutlich senken, indem wir z.B. die Werbeanreize weglassen.
Wie gut stehen die Chancen, eine Abhängigkeitserkrankung zu heilen?
Die Erfolgsquote von Substitutionsbehandlungen bei Opioid-Abhängigen beträgt beispielsweise gut 50%. Das ist aus medizinischer Sicht sehr hoch.
Bei Alkohol sind die Werte leicht tiefer, wobei es auf die konkreten Studien ankommt bzw. wie diese den Erfolg definieren. Der Konsumverzicht ist
übrigens nicht mehr der einzig mögliche Therapieerfolg. Manche Menschen wählen statt der Abstinenz einen risikoarmen Umgang mit einer Substanz. Fakt ist, dass die Rückfallquote in den ersten Wochen nach der Behandlung am höchsten ist.
Was steigert langfristig den Therapieerfolg?
Wichtig ist die Nachbehandlung beispielsweise nach einem stationären Alkoholentzug. Leider sind die Plätze für die psychiatrische Nachsorge limitiert. Und hier kommt das Stigma wieder ins Spiel. Viele scheuen den Gang in die Psychiatrie und nicht alle Praxen nehmen Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen auf. Das liegt mitunter auch daran, dass während der Ausbildung nur wenige Erfahrungen mit Suchterkrankten gemacht wurden. Es gibt noch viel Potenzial, um angehende Fachkräfte auf diese spezifische Behandlung vorzubereiten. Da bemühen wir uns in Basel auch sehr darum.
Was unterscheidet die jungen von den älteren Patienten und Patientinnen?
Jugendliche und junge Erwachsene sind häufig wegen des Konsums von Cannabis, Alkohol und in letzter Zeit auch Benzodiazepinen in Behandlung.
Und sie konsumieren oft nur punktuell zu viel. Im Alter ab ca. 35 Jahren sehen wir viele Patienten und Patientinnen wegen des Konsums von Alkohol, Kokain oder Heroin. Eine Gemeinsamkeit ist, dass sie meist unter begleitenden psychiatrischen Erkrankungen leiden und nicht selten werden die Substanzen im Sinne einer «Selbstbehandlung» eingesetzt.
Ist es Ihnen in der Suchtmedizin schon langweilig geworden?
(Lacht) Nein, noch nie. Ich habe mich schon während des Studiums fürs Gehirn interessiert und kam nach Erfahrungen in der Neurologie sowie der
Kinder- und Jugendpsychiatrie in die Psychiatrie, wo wir Menschen mit Suchterkrankung behandelten. Ich erlebte tragische und schwierige Geschichten, aber manchmal auch lustige. Die Arbeit mit suchterkrankten Menschen ist für mich sehr befriedigend und vielseitig. Vielseitig in dem Sinne, dass 80% der Patientinnen und Patienten begleitende psychiatrische und körperliche Erkrankungen haben, vor allem Depressionen, Persönlichkeitsstörungen oder Angsterkrankungen. Dazu kommt der starke gesellschafts- und drogenpolitische Aspekt. Das macht es unheimlich spannend.
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