Mitten unter uns: Kokain und seine fatalen Folgen

Kokain – die neue Volksdroge?

08.09.2025

«Sucht ist keine Wahl. Niemand will abhängig werden»

Marina Jung wurde zur Autorin, obwohl sie das nie vorhatte. Sie wollte die schwere Suchterkrankung ihres Sohnes Benedict verstehen und recherchierte unermüdlich. Daraus entstand ein Buch, das eigene Erfahrungen, erschütternde Texte von Benedict Jung, andere Fallbeispiele und viel Fachwissen zu Sucht und Kokain verbindet.

Die erste Ausgabe Ihres Buches «Kokainjahre» war innert zwei Tagen vergriffen. Haben Sie damit gerechnet?

Marina Jung: Nein, das war nicht voraussehbar. Was mich berührt, sind auch die unzähligen Rückmeldungen von Lesenden, darunter Fachpersonen, Angehörige, Konsumierende – selbst von Menschen ohne eigene Betroffenheit. Es sind überwältigend viele Reaktionen und damit habe ich nicht gerechnet. Ich bekam mehrseitige Schreiben per Post, Mails und Feedbacks über die sozialen Netzwerke.

Das Buch habe ich Angehörigen von Menschen mit Suchterkrankungen gewidmet. Es soll ihnen zeigen, dass sie mit ihrer Not nicht allein sind. Umso mehr überraschte es mich, dass sich auch Konsumierende meldeten. Sie finden sich in den Texten von Benedict wieder.

 

Können Sie ein Beispiel einer solchen Rückmeldung nennen?

Eine ehemalige Konsumentin schrieb: Die Zeilen von Benedict hätten meine sein können. Nur hätte mir diese Feinheit, Intelligenz bei der Wortwahl und Tiefe gefehlt, es so auszudrücken wie er. (…) An meine Mutter denkend liefen mir Tränen herunter.

 

Wie reagieren betroffene Mütter auf Ihr Buch?

Eine Mutter schrieb mir: Ihr Buch war für mich ein Wendepunkt. Es hat mich tief bewegt (…) und mir ein Verständnis für das Wesen der Sucht gegeben, das ich so nie hatte. Ich wusste nicht, was Sucht wirklich bedeutet. Für Angehörige gibt es kein Handbuch, keine Anleitung – man irrt einfach nur durch Schmerz, Angst und Ohnmacht. Diese Mutter fand im Buch ihre eigene Gefühlswelt wieder. Und sie erhielt Fachwissen für einen besseren Umgang mit der Situation.

 

Solche Rückmeldungen zeugen vom immensen Bedürfnis von Angehörigen nach Orientierung und Halt. Schaffen Sie es, jeder Person zu antworten?

Ich bemühe mich, es ist mir ein Bedürfnis, mich bei allen, die mir schreiben, persönlich zu bedanken und, sofern möglich, Fragen zu beantworten. Ich hoffe, dass ich niemanden übersehe.

 

Gibt es einen gemeinsamen Nenner bei all diesen Reaktionen von Lesenden?

Eine Gemeinsamkeit ist der Ausdruck von Dankbarkeit für das vermittelte Fachwissen. Und dass sie als Angehörige oder Betroffene mit dem Buch eine Stimme erhalten. Die Reaktionen zeigen mir, dass das Buch und die furchtbaren Kokainjahre unseres Sohnes für viele Menschen relevant sind.

 

Inwiefern kann das Wissen über Sucht Angehörige unterstützen?

Es ist hilfreich, über die Dynamik einer Suchterkrankung Bescheid zu wissen. Halbwissen führt zu unrealistischen Erwartungen, falschen Voraussetzungen und Vorurteilen. Wir Eltern redeten beispielsweise stundenlang auf unseren Sohn ein und appellierten an seinen Willen. Und ja, er wollte mit dem Konsum aufhören und litt unsäglich. Es braucht sicher den Willen, sich für die Abstinenz zu motivieren. Aber er reicht nicht aus, um abstinent zu bleiben. Benedict hatte von seinem Wesen her einen starken Willen.

Trotz all seiner Anstrengungen und Therapien kam es nach kürzeren und längeren abstinenten Phasen immer wieder zu Rückfällen. Das lässt sich auch neurobiologisch erklären. Vernunft und Verlangen nach der Droge finden in anderen Hirnregionen statt. In dieser Klarheit war uns das damals nicht bewusst und deshalb hörten wir nicht auf, ihn aufzuklären. Ich dachte auch, für den Konsumausstieg mitverantwortlich zu sein. Aber die Verantwortung liegt zu 100 % bei der suchtkranken Person. Dies zu begreifen, ist eine Grundvoraussetzung fürs Loslassen.

«Mein Bruder ist vor 2 Jahren mit 29 gestorben. Es gibt so viele Gemeinsamkeiten zwischen Ihrer und unserer Geschichte, man könnte meinen, Sie haben als Mutter über meinen Bruder geschrieben. Ich werde das Buch meiner Mutter schenken, sie wird sich wahrscheinlich in jeder Seite wiederfinden können.» Rückmeldung eines Lesers von «Kokainjahre»

«Loslassen bedeutet aber nicht, die suchtkranke Person fallenzulassen. Helfen zu wollen ist auch ein menschliches Grundbedürfnis.» Marina Jung
Was bedeutet loslassen für Angehörige?

Loslassen ist ein Prozess, der manchmal besser und manchmal schlechter gelingt. Wie Angehörige sich verhalten, hat mit ihrer Haltung zu tun. Dazu zählt zuallererst, Sucht als Krankheit anzuerkennen. Die Dinge unter Kontrolle zu wissen, gehört zu den Grundbedürfnissen eines Menschen. Doch bei einer Sucht funktioniert das nicht. Die Suchterkrankung unseres Sohnes hat vielmehr uns als Eltern kontrolliert. Ständig haben wir die Befindlichkeit von Benedict beobachtet. Wenn er über die Schwelle trat, schauten wir, ob seine Pupillen geweitet waren, ob er gereizt oder hungrig war. Wir fragten uns: Hat er konsumiert?

Wenn ich damals mehr über Kokain und Sucht gewusst hätte, wäre das Loslassen bewusster möglich gewesen.

«Loslassen bedeutet aber nicht, die suchtkranke Person fallenzulassen. Helfen zu wollen ist auch ein menschliches Grundbedürfnis.» Marina Jung

 

Was können Angehörige tun?

Angehörige können alles tun, um die Abstinenz zu fördern und sie sollten alles unterlassen, das den Konsum begünstigt. So ist es keine echte Hilfe, wenn Eltern beispielsweise Bussen wegen Schwarzfahren oder die Schulden beim Dealer bezahlen. Konsumierende sollten von den Folgen ihrer Suchterkrankung nicht verschont werden.

Angehörige ringen täglich nach Lösungen. Selbst mit einer klaren Haltung und konsequentem Verhalten ist der Umgang mit der Suchterkrankung extrem schwierig. Regeln aufstellen, Grenzen setzen und entsprechende Konsequenzen aufzeigen, ist sicher sinnvoll. So haben wir beispielsweise von Benedict erwartet, dass er in unserer Wohnung nicht konsumiert. Und einmal mussten wir ihm ein Ultimatum stellen, dass er entweder in eine Klinik eintreten oder gehen müsse.

 

Was hilft Angehörigen?

Wichtig ist die Selbstfürsorge. Wenn diese nicht gelingt, braucht es professionelle Hilfe, um den Prozess des Loslassens zu unterstützen. Wir als Eltern drehten uns lange im Kreis. Als ich das erste Mal bei einer Suchtberatungsstelle reden konnte, war dies entlastend.

Zudem rettete mich meine Berufsarbeit (Marina Jung war für die Sozialberatung einer Psychiatrischen Klinik zuständig. Anm.d.Red.). Ich erlebte eine hohe Wertschätzung und die Arbeit war eine grosse Ressource, was nicht selbstverständlich ist. Selbst wenn ich auf dem Weg ins Büro weinte, gelang es mir bei Arbeitsantritt, in die professionelle Rolle zu schlüpfen.

 

Viele Angehörige fühlen sich isoliert. Wie war das damals bei Ihnen?

Wir Eltern machten damals ein grosses Geheimnis um die Suchterkrankung unseres Sohnes. Da spielte die Scham eine Rolle, und auch die Hoffnung, dass Benedict wieder gesund werde. Klar lohnt es sich zu überlegen, wem man was zu welchem Zeitpunkt mitteilt. Wir waren extrem zurückhaltend. Wir wollten unseren Sohn vor Stigmatisierung schützen. Aber die erweiterte Familie würden wir aus heutiger Sicht früher informieren.

«Ich machte die Erfahrung, dass die Scham verschwindet, wenn man darüber spricht.» Marina Jung

 

Müssten wir alle mehr über Sucht und Kokain wissen?

Ja, ich denke, der Aufklärungsbedarf ist gross, und Kokain wird in breiten Kreisen verharmlost. Wissen kann helfen, einen besseren Umgang mit Substanzkonsum in der Familie zu finden, und es macht Sinn, sich mit der Dynamik einer Suchterkrankung und dem Wirkcharakter einer Substanz zu beschäftigen. Die Menschen gehen davon aus, dass Kokain euphorisierend wirkt, das Selbstwertgefühl stärkt und die Leistung steigert. Vielfach unbekannt scheint mir die Tatsache zu sein, dass die Substanz nur kurz wirkt, nasal konsumiert etwa eine Dreiviertelstunde. Danach kommt die Gier nach mehr auf.

Das Abhängigkeitsrisiko wird unterschätzt. Jede fünfte konsumierende Person wird von Kokain abhängig und etwa 4 bis 6 % von ihnen schon innerhalb des ersten Jahres. So war es auch bei Benedict.

Kokain hat nebst den hohen Risiken durch die Streckmittel viele schwere Nebenwirkungen, die in der breiten Öffentlichkeit weitgehend unbekannt sind. Paranoia, eine depressive Symptomatik bis hin zu Suizidalität zählen dazu. Paranoia ist furchtbar und kommt häufig vor – auch Benedict litt darunter. Er fühlte sich verfolgt, konnte nicht mehr Zug oder Bus fahren, nicht mehr ohne Licht schlafen.

«Kokain zu konsumieren ist fast wie russisches Roulette spielen. Man weiss nie, zu welcher Gruppe man gehört.» Marina Jung

 

Man sagt, Suchterkrankungen überdecken das wahre Gesicht eines Menschen…

Ja, die Gereiztheit und Aggressivität meines Sohnes, auch die Überheblichkeit, die Kälte unter Kokain, verstand ich damals nicht, und diese Verhaltensweisen regten mich auf. Er war in solchen Situationen nicht mehr mein Sohn, denn eigentlich war er ein sehr emphatischer Mensch. Doch in Konsumsituationen mit ihm zu reden, war kaum mehr möglich. Heute weiss ich, dass es wichtig ist, zwischen Mensch und Verhalten zu unterscheiden. Und Beziehung anbieten funktioniert in der Regel auch. Beispielsweise mit der Frage: «Soll ich Dir eine Bouillon machen?»

 

Was macht die Überwindung einer Kokainabhängigkeit so schwierig?

Kokain kann nicht substituiert werden und der Konsum erzeugt kein Sättigungsgefühl. Das Suchtgedächtnis bildet sich rasch und wird nicht gelöscht. Es genügen kleine Anreize, um das Verlangen nach der Substanz zu aktivieren. Bei unserem Sohn stellten bereits glatte Oberflächen einen Anreiz dar. Der Suchtdruck ist immens.

«Sucht ist eine Krankheit und hat nichts mit Charakter- und Willensschwäche zu tun.» Marina Jung

Mit 22 Jahren hatte Benedict Jung erstmals Kokain probiert und danach rasch eine Abhängigkeit entwickelt. Rund vier Jahre dauerte die Suchterkrankung, bevor er an den Folgen des Konsums verstarb. Seine Schilderungen zeugen vom unermesslichen Leid, dem die Betroffenen wie auch die Angehörigen ausgesetzt sind.

«Kokainjahre» von Marina Jung

Marina Jung recherchierte intensiv zum Thema Sucht und Kokain, um die schwere Abhängigkeitserkrankung ihres Sohnes zu begreifen. Die studierte Betriebsökonomin mit MAS in Psychosozialem Management ist Autorin des im April 2025 herausgegebenen Buches «Kokainjahre». Sie realisierte im Nachhinein, dass ihr viele Erkenntnisse während der furchtbaren Kokainjahre gefehlt hatten. Mit dem Buch stellt sie anderen Angehörigen ihr Fakten- und Erfahrungswissen zur Verfügung. Das Buch beinhaltet auch einen Perspektivenwechsel, um zumindest in Ansätzen die Situation von Betroffenen besser nachzuvollziehen. Marina Jung lässt Menschen mit einer Kokainabhängigkeit und namentlich ihren Sohn Benedict zu Wort kommen.

Das Buch: Marina Jung, «Kokainjahre»,
rüffer & rub Sachbuchverlag 2025, 288 S.
ISBN 978-3-907351-40-6

Instagram: @kokainjahre

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