Im Leben angekommen

10.01.2024

«Meinen Eltern verdanke ich mein Leben»

Silvia Eyer fühlte sich lange Zeit minderwertig. Inzwischen ist die ausgebildete Yogalehrerin, Buchautorin und SP-Gemeinderätin von Naters (VS) längst mitten in der Gesellschaft angekommen. Das hat sie sich selbst zu verdanken, aber auch den Menschen, die ihr auf dem Weg aus der Sucht beistanden – allen voran die Eltern.

Silvia, das Schulkind

Silvia ist ein sensibles Kind. Das Mädchen leidet unter einer Reizfilterschwäche. Sie hat Mühe, die vielen akustischen und visuellen Reize zu verarbeiten. Es ist ein unsichtbares Leiden. «Ich begann, mich zurückzuziehen, gehörte keiner Clique an», erinnert sich Silvia Eyer. Weshalb Alkohol und andere Drogen allmählich von ihr Besitz ergreifen, dafür hat sie auch heute keine abschliessende Antwort. Schon mit 13 Jahren entdeckt sie den Alkohol und sie fängt mit dem Rauchen an. Alkohol und Zigaretten zu beschaffen ist kein Problem.

Sie ist im Rebellionsmodus, trägt einen Irokesenschnitt und sie probiert weitere Drogen aus: Cannabis und Ecstasy. Schon bald greift sie auch zu Heroin, das für sie zur totalen Flucht wird. Das Gefühl von Unbeschwertheit ist wuchtig. Sie will es immer wieder spüren. Mit 15 Jahren verdeutlichen ihr die starken Entzugssymptome, dass sie ohne Heroin nicht mehr auskommt.

«Wenn mir damals bewusst gewesen wäre, was eine Sucht bedeutet und wie zerstörerisch sie sein kann, wäre vielleicht alles anders gekommen.»

Die Abhängigkeit hat ihr Leben diktiert

Um das Heroin zu beschaffen, stiehlt sie Geld und verkauft ihren Körper. Dabei ist sie noch ein Kindund geht durch die Hölle. Mit 16 Jahren wird sie vonder Polizei mit Heroin aufgegriffen. Die Eltern sinderschüttert, aber sie stehen hinter ihr. «Ich verdankeihnen mein Leben – das weiss ich heute», sagt Silvia Eyer. Sie kommt in die Reha Lutzenberg im Appenzellerland, wo sie therapeutisch begleitet wird und auch eine KV-Lehre absolviert.

«Nach dieser Zeit konsumierte ich aber mehr Drogen denn je. Zwischen dem 18. und 25. Lebensjahr war ich heroinabhängig», fasst Silvia Eyer zusammen. Sie lebt wie im Hamsterrad, von der Sucht gefangen. Wenn kein Geld da ist, gibt es keine Drogen. Die Glieder- und Muskelschmerzen beim Entzug sind kaum auszuhalten. Sie steuert auf den Tiefpunkt zu, bettelt sogar ihren Vater um Geld an. «Schliesslich war ich derart erschöpft von diesem Leben, dass mir nur noch die Wahl zwischen dem Sterben und dem Ausstieg blieb.» Sie will leben, aber anders und bleibt während drei Jahren in einem Methadon-Programm. Auch in dieser Zeit stehen die Eltern zu ihr und helfen, wo sie können.

Silvia, die Yogalehrerin

Dass sie heute ihre Geschichte mitteilt und sich nicht mehr schämt, verdankt sie auch ihrer Yoga-Praxis und der Beschäftigung mit der Philosophie dahinter. Nach der Zeit der Sucht baut sie sich eine neue Identität auf, denn Silvia weiss gar nicht recht, wer sie eigentlich ist. Bedeutender als die Fortschritte in den Asanas ist der Weg zu sich selbst. Sie traut sich schrittweise mehr zu, wird ruhiger und ausgeglichener. Sie akzeptiert ihre Vergangenheit als Teil von ihr. Und sie bleibt dran und absolviert eine Ausbildung zur Yogalehrerin.

«Wenn mir damals bewusst gewesen wäre, was eine Sucht bedeutet und wie zerstörerisch sie sein kann, wäre vielleicht alles anders gekommen.»
Silvia, die Autorin

Das Talent zum Schreiben hilft ihr, im Leben wieder Fuss zu fassen. Noch während des Methadon-Programms packt sie die Chance, welche ihr die Regionalzeitung Aletsch Goms gibt. Sie weiss, dass es als ehemals Drogenabhängige nicht naheliegend ist, diese Arbeit zu bekommen. «Ich wünsche mir, dass dies noch selbstverständlicher wird. Die Gesellschaft muss sich überlegen, wie wir miteinander und mit Tabu-Themen wie Sucht umgehen, wie wir einander unterstützen können».

Mittlerweile hat Silvia ihre Geschichte zu Papier gebracht – den ersten Entwurf der Autobiografie in nur sechs Wochen. Das Buch erscheint diesen Monat im Wörterseh Verlag. Mit ihrer Geschichte will Silvia Eyer anderen, von einer Sucht betroffenen Menschen und ihren Angehörigen Mut machen. «Auch wer ganz unten angekommen ist, kann den Weg zurück in die Gesellschaft schaffen. Dies gelingt besser, wenn wir einander nicht verurteilen, sondern eine Chance geben», ist Silvia Eyer überzeugt.

Unsere Leserinnen und Leser können das Buch «Zurück im Leben» bestellen

Entweder direkt über die Homepage: www.woerterseh.ch,
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oder telefonisch unter: 044 368 33 68.
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Mutter und Vater ein Leben lang

Wenn Eltern merken, dass ein Kind einen problematischen Umgang mit einem Suchtmittel hat, ist das ein Schock. So war es auch bei Silvia Eyer. Ihre Eltern schildern in der Biografie, wie sie die Zeit der Drogensucht ihrer Tochter erlebt haben.

Die Gründe von Suchtmittelkonsum sind vielfältig und Eltern können nicht alles beeinflussen. Dennoch bleibt ihre Rolle wichtig, indem sie ein offenes Ohr haben und die Tochter oder den Sohn ermutigen, fachliche Hilfe anzunehmen.

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