Er gibt seinem Leben eine neue Richtung

Der lange Weg aus der Sucht

01.04.2024

Ich will für andere etwas leisten

Weil er sich stets anders fühlte, war das Leben für Sylvain Rouge bereits im Jugendalter schwierig. Er rutschte in den Drogenkonsum, schaffte es aber dennoch, eine Berufskarriere einzuschlagen. Nach langen Jahren des Konsums will er seinem Leben jetzt eine andere Richtung geben. Sucht Schweiz hilft ihm auf diesem Weg und ermöglichte ihm einen Kompaktkurs im Suchtbereich. Nun will er sich weiter fortbilden und als so genannter Peer-Berater anderen Suchtbetroffenen helfen.

Der Plan ist gefasst, doch der Weg dahin ist harte Arbeit. Zu lange gaben die Drogen im Leben von Sylvain Rouge den Takt vor. Das ändert sich jetzt. Er praktiziert Qigong als meditative Bewegungsform, fährt Rad, bildet sich weiter und arbeitet in einem Tageszentrum für Menschen mit Alkoholproblemen sowie in einer Werkstatt zur beruflichen Integration, wo er alte Möbel restauriert. Dank dem Hilfsfonds von Sucht Schweiz besuchte er in diesem Jahr einen Grundkurs, um die Entwicklung einer Abhängigkeit und die Risikofaktoren besser zu verstehen. «Die anderen Teilnehmenden waren alle Fachleute, aber sie nahmen mich ernst». Im Anderssein akzeptiert zu werden, ist in seinem Leben ein grosses Thema.

Die eigenen Verletzlichkeiten zu begreifen und schwierigen Situationen begegnen zu können – das ist für Sylvain Rouge wichtig. Für Sucht Schweiz war klar, dass die Kurskosten ihm nicht nur lehrreiche Tage ermöglichten. Diese Unterstützung steht auch für das Vertrauen, dass er den Weg in ein neues Leben ohne Drogen schafft. Als selbst Betroffener möchte er seine Erfahrungen teilen, um anderen auf ihrem Weg aus der Sucht zu helfen. «Mir hätte es geholfen, Verständnis und Zuspruch von jemand anderem mit einem ähnlichen Hintergrund zu bekommen», betont Sylvain Rouge.

Der Teufelskreis von Arbeit und Konsum

Der gelernte Kosmetiker Sylvain Rouge führte während 20 Jahren ein eigenes Geschäft. An Kundinnen mangelte es ihm nicht, doch seine Sucht hatte
ihn und seinen Alltag fest im Griff. «Mit den Einnahmen des Tages finanzierte ich meinen abendlichen Drogenkonsum. Wenn es zu viel wurde, habe ich die Termine des nächsten Tages unter fadenscheinigen Ausreden abgesagt», räumt er ein.

 

«Ich dachte, so nicht mehr leiden zu müssen. Ich habe verschiedene Substanzen genommen und während zehn Jahren fast täglich Crack (rauchbares Kokain. Anm. Red.) konsumiert.»

 

Doch wie kam es zu diesem Teufelskreis? Seine belastete Kindheit und der Fluchtgedanke schwingen hier bis heute mit. «Zuerst war es ein Freizeitvergnügen, aber bald wurde mir klar, dass ich die Drogen brauchte, um meine Ängste vor Menschen zu überwinden.

Der Wille aufzuhören, sei immer da gewesen. Doch es brauchte einen äusseren Anlass. Dieser kam mit der Pandemie, die ihn zur Geschäftsaufgabe zwang. «Nun wusste ich, dass ich etwas unternehmen musste, um aus der Sache herauszukommen», erinnert sich Sylvain Rouge. Den eingeschlagenen Weg aus der Suchterkrankung stellt er nicht in Frage, aber er ist auch heute nicht abgeschlossen. Nicht mehr zu konsumieren heisst nicht, schon gesund zu sein. «Es ist ein Prozess mit Höhen und Tiefen. Ich bin dankbar für die Unterstützung, die ich dabei bekomme».

Die Scheu vor Menschen bekämpfen

Heute ist Sylvain Rouge 40 Jahre alt. Wir sitzen mittags in der Nähe des trutzigen Schlosses von Yverdon-les-Bains, im Tageszentrum der Stiftung
Estérelle-Arcadie und des Blauen Kreuzes. Hier gibt es für alkoholkranke Menschen eine warme Mahlzeit, Aktivitäten und ein offenes Ohr von Fachpersonen. Sylvain Rouge arbeitet an einem Tag der Woche in diesem Zentrum. «Das gibt mir Struktur im Alltag und ich fühle mich wohl hier». Die Arbeit in der Küche mag er besonders und erinnert ihn an früher. Die Kochlehre hatte er damals abgebrochen, weil er es in der von Männern dominierten Welt nicht aushielt. «Ich flüchtete mich in ein von Frauen geprägtes Universum. Im Kosmetikstudio fand ich meinen Platz. Dabei habe ich es versäumt, an meinen Problemen zu arbeiten», sagt er selbstkritisch. «Ich muss mich jetzt mit meiner Vergangenheit auseinandersetzen und lernen, mich nicht zu isolieren»

Sylvain Rouge kocht gerne für andere und schätzt die Arbeit in der Küche des Tageszentrums. Fotos: Pauline Stauffer
Nie mehr Kind sein

Seine Kindheit hat er traumatisch in Erinnerung. «Ich litt unter den Blicken und dem Gespött der anderen.» Die Hyperaktivität, seine Sensibilität, die Scheu und seine Homosexualität machten es nicht einfacher. «Die starke Akne und eine langwierige kieferorthopädische Behandlung erschwerten es, ein positives Selbstbild aufzubauen und mein Selbstvertrauen zu festigen.» Mit 16 Jahren bekannte er sich nach aussen zu seiner Homosexualität. Die Mutter reagierte verständnisvoll, doch insgesamt war es kein Befreiungsschlag. Denn nun war er definitiv der Aussenseiter der Schule und sein Leben wurde noch komplizierter. Er mochte sich nicht und die anderen mochten ihn nicht. Quälend war der Sportunterricht. Wenn er irgendwo einen Ball fliegen sieht, fürchtet er noch heute, dass er hart in seinem Gesicht landet.

Jetzt, mitten im Leben, sind die Spuren der starken Akne längst aus seinen Gesichtszügen verschwunden. Er hat nichts mehr zu verbergen und spricht offen über seine Suchterkrankung. Im Gespräch scheut er den Blickkontakt nicht mehr und er wählt seine Worte mit Umsicht. Dabei vergeht die Mittagszeit wie im Fluge. Für den Nachmittag plant er eine Hypnosesitzung in Morges, wo er seit Beginn seiner Problematik von einer Anlauf- und Beratungsstelle für Suchtkranke betreut wird.

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